Trojaburg
 
 

René Guenon: Der König der Welt

Nach dem Tode von Saint-Yves d´Alveydre wurde ein Buch mit dem Titel "Mission de l´Inde" veröffentlicht, dessen Manuskript sich unter seinen Papieren befunden hatte. Es enthielt die Schilderung einer mystischen Geheimgesellschaft, deren Namen "Agarta" [Agarttha] war. Saint-Yves hatte ohne Zweifel guten Grund, dieses Werk, das er vor mehr als dreißig Jahren geschrieben und keineswegs gründlich durchgearbeitet hatte, zurückzuhalten; unter bestimmten Gesichtspunkten konnte die Veröffentlichung sogar als ein schlechter Dienst jener angesehen werden, die sich seine "Freunde" nannten. Tatsächlich mußten manche Leser annehmen, daß es sich um eine vollständig erfundene Erzählung handele, um etwas Erdichtetes, das sich auf nichts Wirkliches stützt. Um ganz ehrlich zu sein, darf man wohl sagen, es finden sich in diesem Werk, wenn man alles buchstäblich nimmt, Unwahrscheinlichkeiten, die mindestens für diejenigen, die sich nur oberflächlich damit beschäftigen, eine derartige Ansicht rechtfertigen. Aber auch jene, die auf anderem Boden stehen, handelten in Ermangelung irgendeines Beweises am richtigsten, wenn sie mit ihrer Meinung zurückhielten. Wir vertraten jedenfalls diesen Standpunkt.

Aber jetzt zeigt sich ganz unerwartet eine neue Verständnismöglichkeit durch das Erscheinen eines höchst aktuellen Buches, in dem Ferdinand Ossendowski von den Wechselfällen einer ereignisreichen Reise berichtet, die er 1920 und 1921 durch Zentral-Asien machte. Dieses Buch "Tiere, Menschen und Götter" [*] enthält, besonders im letzten Teil, Erzählungen, welche mit jenen von Saint-Yves fast identisch sind. Dieser Teil scheint übrigens das allgemeine Interesse nicht sonderlich geweckt zu haben; wir wissen nicht einmal, ob der Autor selber, der sich viel mehr der Politik als der Wissenschaft widmete, die richtige Einschätzung für diese Dinge hatte. Da ihm jegliches Verständnis für das Esoterische fehlte, wollte er offensichtlich nichts anderes als das wiedergeben, was er gesehen und verstanden hat; sein Zeugnis wird unter diesen Umständen vielleicht für manche von noch größerer Bedeutung sein.

Wir sind uns indessen auch wohl bewußt, daß die Zweifler und die Ossendowski Übelwollenden sagen werden, er habe an Saint-Yves ein Plagiat begangen, und, um diese Anschuldigung zu beweisen, alle übereinstimmenden Teile der beiden Werke anführen werden; tatsächlich gibt es eine beträchtliche Anzahl, die bis in die kleinsten Einzelheiten überraschende Ähnlichkeiten aufweisen. In dem Buch von Saint-Yves mutet uns am unwahrscheinlichsten die tatsächliche Existenz einer unterirdischen Welt an, deren Verzweigungen sich überallhin erstrecken, unter Erdteile und Meere, und durch deren Kraft sich unsichtbare Fäden durch alle Gegenden der Erde ziehen. Ossendowski bekennt sich übrigens nicht zu dieser Annahme, er erklärt vielmehr, daß er nicht wisse, was er von ihr halten solle, aber er führt sie auf verschiedene Persönlichkeiten zurück, mit denen er im Laufe seiner Reise zusammengetroffen ist. Zu den merkwürdigsten Einzelschilderungen gehört vor allem die Stelle, wo der "König der Welt" am Grabe seines Vorgängers beschrieben wird, ferner jene, wo man nach dem Ursprung der Zigeuner forscht, die einst in "Agarta" gelebt haben sollen. Saint-Yves behauptet, es gebe während der unterirdischen Feierlichkeiten der "Misteri cosmici" [kosmische Mysterien] Augenblicke, in denen die in der Wüste Reisenden stehen bleiben, in denen sogar die Tiere verstummen; Ossendowski versichert, daß er selber einem derartigen Augenblick allgemeiner Sammlung beigewohnt habe. Vor allem besteht die seltsame Übereinstimmung in der Erzählung von einer verschwundenen Insel, auf der merkwürdige Menschen und Tiere lebten. Übrigens zitiert hier Saint-Yves den Bericht von der Umschiffung Jambulos durch Diodor von Sizilien, während Ossendowski von der Reise eines alten Buddhisten nach Nepal spricht; und doch weichen ihre Beschreibungen kaum voneinander ab. Wenn es wirklich zwei verschiedene Darstellungen dieser Begebenheiten geben sollte, die auf so weit auseinanderliegende Quellen zurückzuführen sind, so wäre es interessant, ihnen weiter nachzuspüren und sie sorgfältig zu vergleichen.

Wir fanden es richtig auf alle diese Ähnlichkeiten hinzuweisen, damit jene, die sie ebenfalls bemerkt haben, nicht glauben, daß sie uns entgangen seien, oder uns des Verschweigens gewisser Schwierigkeiten beschuldigen. Nun wäre aber offenbar noch über die Tragweite zu diskutieren, die ihnen zukommt. Für alle Fälle: Ossendowski hat uns persönlich bestätigt, daß er niemals Saint-Yves gesehen habe und daß ihm sogar dessen Name bis zur Veröffentlichung seines Buches unbekannt war, und wir haben keine Veranlassung an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Falls er aber "La Mission de l´Inde" wirklich teilweise abgeschrieben hätte, könnten wir uns nicht vorstellen, aus welchem Grunde er die Form einiger Wörter verändert haben sollte, zum Beispiel "Agarti" [Agharti] statt "Agarta" [Agarttha] (was sich ohne weiteres erklärt, wenn er seine Informationen aus mongolischen Quellen zog, während Saint-Yves hindostanische benutzte), ebensowenig, weshalb er zur Bezeichnung des Hauptes der geheimen Priesterschaft den Titel "König der Welt" gebraucht, der an keiner Stelle bei Saint-Yves vorkommt. Jedoch selbst wenn wir einige Anlehnungen zugäben, bleibe immer noch die Tatsache bestehen, daß Ossendowski bisweilen Dinge sagt, denen nichts in der "Mission de l´Inde" entspricht, und daß es Schilderungen sind, die er unmöglich erfinden konnte, zum Beispiel die Erzählung von einem "Schwarzen Stein", der einstmals vom "König der Welt" dem Dalai Lama gesandt, dann nach Urga in der Mongolei gebracht wurde und der vor ungefähr hundert Jahren verschwand. Er hat zweifellos von diesen Dingen während seines Aufenthalts im Orient sprechen hören, falls er sie nicht unter dem Einfluß einer außergewöhnlichen Suggestion niederschrieb. Wir halten uns darum für berechtigt, endlich das über die Frage von "Agarta" ruhende Schweigen zu brechen, und dies um so mehr, als es durchaus nicht in unserer Absicht liegt, zu den verschiedenen Texten Stellung zu nehmen. Wir wollen vielmehr nur einige Fingerzeige geben, die sich bisher nirgends finden und die in gewisser Weise dazu beitragen könnten, das aufzuklären was Ossendowski "das Geheimnis der Geheimnisse" nennt.

Nimmt man den Titel "König der Welt" in seiner höchsten, umfassendsten und gleichzeitig strengsten Bedeutung, so bezeichnet man damit eigentlich "Manu", den Urgesetzgeber des Universums, dessen Name sich in verschiedener Form bei vielen alten Völkern findet. Dieser Name ist übrigens der Ausdruck für ein Weltprinzip und nicht für eine geschichtliche Persönlichkeit, aber dieses Prinzip kann sich durch ein geistiges Zentrum auf Erden manifestieren, durch eine Organisation, deren Aufgabe darin besteht, die heilige Tradition rein zu bewahren; und das Haupt einer solchen Organisation, welches in gewisser Weise Manu selbst verkörpert, wird zu Recht seinen Titel und seine Kennzeichen tragen dürfen. Das ist wohl der Fall in "Agarta", falls jener Kreis, wie Saint-Yves behauptet, die Erbschaft der alten Sonnen-Dynastie (Suryavanscha) angetreten hat, die einst in Ayodhà ihren Sitz hatte und in ihrem Ursprung wieder auf Vaivaswata, den Manu des heutigen Kreises zurückgeht. Nichtsdestoweniger betrachtet Saint-Yves, wie bereits gesagt, das Oberhaupt von "Agarta" nicht als den "König der Welt"; er bezeichnet ihn als "souveränen Priester" und setzt ihn außerdem an die Spitze einer Brahmanen-Kirche, eine Bezeichnung, die aus zu stark abendländischer Denkungsart hervorzugehen scheint. Hiervon abgesehen ergänzt Saint-Yves die Erzählung Ossendowskis. Es scheint, daß beide nur das wahrnahmen, was ihrer persönlichen Tendenz und Einstellung am besten entsprach, denn in Wahrheit handelt es sich hier um eine zwiefache Macht, eine priesterliche und königliche zugleich. Im Mittelalter gab es eine Erscheinung, in welcher diese beiden verschiedenen Machtsphären in einer Weise vereinigt waren, die wohl der Erwähnung wert ist: man sprach zu jener Zeit oft von einer geheimnisvollen Gegend, dem "Reich des Priesters Johannes". Es war die Zeit, in der die Nestorianer und Sabier der äußeren Erscheinungsweise jenes Zentrums am nächsten kamen; letztere gaben sich selbst den Namen "Mendayeh de Yahia" d. h. "Schüler des Johannes". Hier können wir gleich eine andere Beobachtung anfügen: es ist zum mindesten auffallend, daß mehrere der exklusiven orientalischen Gruppen von den Haschischin des "Alten vom Berge" bis zu den Drusen des Libanon genau wie die Orden der abendländischen Ritter den Titel "Hüter des heiligen Landes" angenommen haben. Das Folgende wird zweifellos dazu beitragen, der Bedeutung dieser Dinge näher zu kommen. Wenn Saint-Yves von den "Tempelherren der Agarta" spricht, hat er einen Ausdruck gefunden, der treffender ist, als er selbst vielleicht glaubte.

Wie dem auch sei, die Vorstellung einer Persönlichkeit, die gleichzeitig Priester und König ist, war dem Abendland keineswegs geläufig; auch während des Mittelalters war die höchste Macht zwischen Papst- und Kaisertum geteilt. Im Orient findet sich dagegen eine derartige Trennung der Spitze der Hierarchie nur in gewissen buddhistischen Gesellschaften. Wir wollen hierbei nur auf die Unvereinbarkeit der Machtfunktion des Buddho mit jener des Chakravarti oder des "monarca universale" [universalen Monarchen] hinweisen, der im Mittelpunkt aller Dinge steht und sie nach seinem Ermessen lenkt, ohne selbst an der Bewegung teilzunehmen, oder der nach den Worten des Aristoteles "der unbewegte Beweger" ist. Er ist der feste Punkt, den alle Überlieferungen übereinstimmend mit dem Symbol "Pol" bezeichnen, weil er es ist, um den sich die Welt bewegt; so erklärt sich auch die wahre Bedeutung der "Swastika", jenes überall vom äußersten Orient bis zum fernsten Okzident verbreiteten Zeichens, das die europäischen Gelehrten unserer Zeit mit den phantastischsten Theorien erfolglos zu deuten versucht haben.

Auf Grund unserer letzten Darlegungen kann man verstehen, daß der "König der Welt" eine im wesentlichen ordnende und regulierende Funktion ausübte, die sich in die Begriffe "Gleichgewicht" oder "Harmonie" fassen läßt. Was wir davon erkennen, ist der Widerschein des höchsten Prinzips. Auf Grund gleicher Erwägungen läßt sich nun auch begreifen, weshalb der "König der Welt" als Attribute "Gerechtigkeit und Friede" hat, doch sind diese Begriffe nichts anderes als enger gefaßte Bezeichnungen für das Wesen des Gleichgewichts und der Harmonie in der "Menschenwelt".

Nach Saint-Yves trägt das Oberhaupt der "Agarta" den Titel "Brahâtmâ" (richtiger wäre vielleicht "Brahmâtmâ["]), "Stützte der Seelen im Geiste Gottes". Seine beiden Gehilfen sind der "Mâhatmâ", der die Allseele verkörpert, und der "Mahânga", das Symbol des körperlichen Kosmos. Es ist notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß diese im Sanskrit Prinzipien bezeichnen und daß sie nicht auf menschliche Wesen angewendet werden können; so meinen sie auch im obigen Falle Funktionen und nicht Individuen. Nach Ossendowski ist der Mâhatmâ das Kausalprinzip aller Ereignisse, während der Brahâtmâ von Angesicht zu Angesicht mit der Gottheit sprechen kann. Die Bedeutung dieser Eigenschaft ist leicht verständlich, wenn man sich daran erinnert, daß der Brahâtmâ den Mittelpunkt bildet, von dem aus die direkte Verbindung der irdischen Welt mit den höheren Sphären hergestellt wird und durch diese mit dem höchsten Prinzip. Wenn man den Ausdruck "König der Welt" übrigens im einschränkenden Sinne, nur in Beziehung zur irdischen Welt verstehen wollte, so wäre das durchaus verfehlt. Viel richtiger wäre es in gewisser Hinsicht, den Brahâtmâ als "Meister dreier Welten" zu bezeichnen. "Beim Verlassen des Tempels", sagt Ossendowski, "strahlt der 'König der Welt' ein göttliches Licht aus." Die hebräische Bibel behauptet genau dasselbe von Mose, als er vom Sinai hinabstieg, und bei der Konstatierung dieser Übereinstimmung ist ferner bemerkenswert, daß die Überlieferung des Islam in Mose denjenigen sah, welcher der "Pol" seiner Zeit war. Man müßte auch noch zwischen dem Hauptzentrum und Nebenzentren unterscheiden, die jenem untergeordnet sein und es unter gewissen Voraussetzungen vertreten können.

"Der 'König der Welt'," sagte ein Lama zu Ossendowski, "steht in Beziehung zu den Gedanken aller, die das Geschick der Menschheit lenken. Er kennt ihre Absichten und ihre Ideen. Falls sie Gott gefallen, schenkt der 'König der Welt' ihnen seine unsichtbare Hilfe; aber wenn sie Gott mißfallen, vereitelt er sie. Diese Macht hat 'Agarti' aus der mystischen Wissenschaft des 'Om' empfangen, ein Wort, mit dem unsere sämtlichen Gebete anfangen." Hierauf folgte die Erklärung, welche Jeden, der mit dem Einsilber "Om" nur eine unbestimmte Vorstellung verbindet, in das größte Erstaunen versetzen muß: "Om ist der Name eines alten Heiligen, des ersten der Goros (Ossendowski schreibt Goro für Guru), der vor 300 000 Jahren lebte." Dieser Ausspruch ist tatsächlich völlig unverständlich, wenn man nicht an folgendes denkt: Die Epoche, um die es sich handelt und die nur ganz unbestimmt dargestellt wird, lag weit vor der Zeit des heutigen Manu; andererseits wird l'Adi-Manu [der Adi-Manu] oder der erste Manu unseres Kalpa (Vaivaswata war der siebente), Swâyambhuva genannt, von Swâyambhû abgeleitet, "jener, der für sich selbst besteht" oder der ewige Logos; nun kann der Logos oder sein direkter Vertreter wirklich als der erste der Gurus bezeichnet werden, und "Om" ist in der Tat ein Name des Logos.

Der Ausdruck "Om" gibt auch unmittelbar Aufschluß über die Teilung der Funktionen zwischen dem Brahâtmâ, dem Mâhatmâ und dem Mahânga. Nach der Überlieferung der Hindus versinnbildlichen die drei Elemente dieses heiligen Einsilbers die drei Welten: die Erde, die Atmosphäre und den Himmel; mit anderen Worten: die Welt der Körper, die Welt der Seelen, die Welt der zugrunde liegenden Prinzipien. Von unten nach oben gesehen sind es die Reiche des Mahânga, des Mâhatmâ und des Brahâtmâ, leicht erkennbar an der vorher gegebenen Interpretation ihrer Titel; die Art der Unterordnung, welche zwischen den verschiedenen Reichen steht, wird für den Brahâtmâ mit dem oben schon angeführten Beiwort "Meister der Reiche" gut gekennzeichnet. Der Mahânga stellt die Basis des geweihten Dreiecks dar und der Brahâtmâ seine Spitze; zwischen beiden verkörpert der Mâhatmâ gewissermaßen ein vermittelndes Prinzip, dessen Handeln sich in dem dazwischen liegenden Raum abspielt; und alles dieses ist deutlich wiedergegeben mit entsprechenden Buchstaben des heiligen Alphabets, das Saint-Yves "vattan" und Ossendowski "vatannan" nennt.

Wenn Ossendowski tiefer in die Dinge eingedrungen wäre, als er es getan hat, hätte er die unbedingte Übereinstimmung sehen können, welche zwischen der hohen Dreizahl von Agarta und jener des Lamaismus besteht: der Dalai-Lama, der die reine Geistigkeit oder die Heiligkeit Buddhos verkörpert, der Tashi-Lama, der seine Wissenschaft offenbart, und der Bogdo-Khan, welcher seine körperliche und kriegerische Kraft darstellt. Es ist genau dieselbe Teilung wie in den drei Welten. Er hätte diese Beobachtung umso leichter machen können, als ihm gezeigt worden war, daß Agartis Hauptstadt an Lhassa erinnert, wo sich der "Potala", der Palast des Dalai-Lama, auf den Gipfeln eines mit Tempeln und Klöstern bebauten Berges befindet. Diese Art der Betrachtung der Dinge ist übrigens eine irrtümliche, da sie die Beziehungen umwirft, denn in Wirklichkeit kann man von dem Ebenbild wohl behaupten, daß es an das Urbild erinnere, aber nicht das Gegenteil [besser: das Umgekehrte]. Es besteht noch eine weitere Übereinstimmung: dort, wo Saint-Yves die verschiedenen Grade und Kreise der geweihten Hierarchie beschreibt, die in bestimmtem Verhältnis zu gewissen symbolischen Zahlen stehen, welche sich auf Zeiteinteilungen beziehen, schließt er mit dem Satze: "Der erhabenste und dem Geheimzentrum nächste Kreis setzt sich aus zwölf Gliedern zusammen, die den letzten Ursprung verkörpern und der Zodikalzone entsprechen." Nun gibt es eine Wiederholung dieser Anordnung in der von den zwölf großen Namshans gebildeten Tafelrunde des Dalai Lama; dort findet man übrigens sogar in gewissen abendländischen Überlieferungen auch manches, was die Ritter der Tafelrunde betrifft. Wir müssen noch hinzufügen, daß die zwölf Glieder des inneren Kreises der Agarta, vom Gesichtspunkt der kosmischen Ordnung aus betrachtet, nicht einfach die zwölf Zeichen des Tierkreises darstellen, sondern auch die zwölf Adityas, die gleichfalls Formen der Sonne unter den Zeichen des Tierkreises sind; und wie Manu Vaivaswata der Sohn der Sonne genannt wird, so hat der "König der Welt" die Sonne auch unter seinen Sinnbildern. Es bestehen wirklich sehr enge Fäden zwischen den Beschreibungen, die sich in allen Ländern auf mehr oder weniger verborgene oder wenigstens schwer zugängliche geistige Zentren beziehen. Die einzig annehmbare Erklärung ist die: wenn diese Darstellungen verschiedene Zentren schildern, so sind letztere nichts anderes als die Emanation eines einzigen und höchsten Zentrums.

Agarta war, wie man sagt, nicht immer unterirdisch und wird es nicht immer bleiben. Es wird eine Zeit kommen, in welcher nach den von Ossendowski wiedergegebenen Worten "die Völker von Agarti ihre Höhlen verlassen und auf der Oberfläche der Erde erscheinen werden". Ehe Agarta von der sichtbaren Erde verschwand, hatte dieses Zentrum einen anderen Namen, denn "Agarta", was "unzugänglich" bedeutet, wäre nicht passend gewesen. Ossendowski gibt an, daß Agarta vor mehr als sechstausend Jahren unterirdisch geworden ist, und diese Zeitangabe stimmt ziemlich genau mit dem Beginn des Kali-Yuga oder des "Schwarzen Zeitalters" der alten Völker des Abendlandes überein; ihr Wiedererscheinen muß mit dem Ende derselben Periode zusammenfallen. Saint-Yves hätte zweifellos diese Symbolik erklären können, aber er hat es nicht getan, und hierdurch erhalten gewisse Teile seines Buches den Anschein von Trugbildern. Ossendowski war sicher unfähig, sich vom Buchstaben zu lösen und in dem, was man ihm erzählte, etwas anderes zu sehen als den einfachen Inhalt im unmittelbarsten Sinne.

In allen Überlieferungen wird auf etwas angespielt, was in einer bestimmten Epoche verloren gegangen oder verborgen gewesen sein muß, z.B. der "Soma" der Hindus oder der "Haoma" der Perser, wobei es nicht an Beziehungen zu dem Gral in den abendländischen Legenden fehlt. Bei den Hebräern ist es die richtige Aussprache für den göttlichen Namen. Die heutige Periode ist also ein Zeitalter der Finsternis und der Verwirrung; ihre Zustände sind derartig, daß, solange sie andauern, die letzte Erkenntnis notwendigerweise verborgen bleiben muß, worauf der Charakter der Mysterien des sogenannten "historischen" Altertums und der Geheim-Organisationen aller Völker zurückzuführen ist: Organisationen, welche eine wirkliche Weihe nur dort geben, wo noch die wahre Überlieferung der Lehre besteht, die aber nichts sind als ein Schatten, wenn der Geist dieser Lehre aufgehört hat, die Symbole mit Leben zu erfüllen; und das ist der Fall, weil aus verschiedenen Ursachen jedes Band mit dem geistigen Zentrum der Welt zerrissen ist.

In Europa hat jede Verbindung mit dem Zentrum auf dem Wege über Geheimgesellschaften aufgehört und zwar schon sein mehreren Jahrhunderten. Dieser Bruch hat sich übrigens nicht plötzlich vollzogen, sondern in einigen aufeinanderfolgenden Phasen. Die erste Phase geht auf den Beginn des 14. Jahrhunderts zurück. Nach dem, was wir über die Ritterorden berichtet haben, ist klar zu erkennen, daß eine ihrer wichtigsten Funktionen in der Sicherung einer Verbindung zwischen Morgenland und Abendland bestand. Die Tragweite einer solchen Verbindung ist nach den obigen Schilderungen besonders bedeutungsvoll, weil das Zentrum immer im Orient gelegen war. Trotzdem versuchten die "Rosenkreuzer" oder was später diesen Namen führte, nach der Zerstörung des Templerordens die gleiche Verbindung aufrechtzuerhalten. Die Renaissance und die Reformation bedeuten eine neue kritische Phase, und der vollständige Bruch ist nach den Andeutungen von Saint-Yves mit den westfälischen Verträgen zusammengefallen, die im Jahre 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendigten.

Bemerkenswert scheint die Feststellung verschiedener Schriftsteller, daß die wirklichen Rosenkreuzer kurze Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg Europa verlassen haben, um sich nach Asien zurückzuziehen. Wir erinnern bei dieser Gelegenheit an die Zahl zwölf der Adepten der Rosenkreuzer, die mit den zwölf Gliedern des inneren Kreises der Agarta übereinstimmt. Nach dieser letzten Epoche liegt die Kenntnis der Geheimkulte nicht mehr bei irgend welchen abendländischen Gesellschaften. Swedenborg erklärt zum Beispiel, das verlorene Wort müsse nunmehr zwischen Tibet und der Tartarei gesucht werden; Anna Katharina Emmerich hat die Vision eines geheimnisvollen Ortes, den sie den "Berg des Propheten" nennt und der in derselben Gegend gelegen ist. Hinzufügen sind noch die unvollständigen Informationen, die Madame Blavatsky über diesen Punkt sammelte, ohne seine wirkliche Bedeutung zu verstehen; sie ließen in ihr die Vorstellung der "Großen weißen Loge" reifen, die man eine Karikatur oder eine phantastische Parodie der Agarta nennen könnte.

Auf Grund der Ossendowskischen Berichte erschien der "König der Welt" einst mehrere Male, in Indien und in Siam, wo er das Volk mit einem goldenen Apfel segnete, auf dem sich ein Lämmchen befand. Diese Besonderheit erhält erst ihre volle Bedeutung, wenn man sie mit dem vergleicht, was Saint-Yves von dem Tierkreis aussagt. Noch wertvoller ist, daß auch in den christlichen Symbolen zahllose Darstellungen des Lammes auf einem Berge bestehen, von dem vier Flüsse herabfließen, die offensichtlich mit den vier Flüssen des irdischen Paradieses identisch sind. Wir haben behauptet, daß Agarta vor dem Beginn des Kali-Yuga einen anderen Namen hatte; dieser Name war "Paradesha", was im Sanskrit "Höchstes Land" bedeutet und sich gut auf das geistige Zentrum anwenden läßt, das auch mit dem Ausdruck "Herz der Welt" gekennzeichnet wird. Dieses Wort haben die Chaldäer in "Pardes" und die Abendländer in "Paradies" umgewandelt.

Das ist aber noch nicht alles. Wenn man sich das vergegenwärtigt, was hier über das Symbol des "Pols" gesagt wurde, wird man nun auch verstehen, was der Polberg bedeutet, von dem unter verschiedenen Namen in fast allen Überlieferungen die Rede ist: der Meru bei den Hindus, "l´Alborj" [der Alborj] bei den Persern, der Berg Kaf bei den Arabern und auch der Monsalvat in der abendländischen Gralslegende. Auch handelt es sich wie beim irdischen Paradies um ein unzugänglich gewordenes Reich, und dieses Land ist tatsächlich nichts anderes als das "Höchste Land". Übrigens war nach gewissen vedischen und avestischen Texten die Lage ursprünglich polar, auch im buchstäblichen Sinne des Wortes. Andererseits scheint es angebracht, das Bestehen mehrerer aufeinanderfolgender Örtlichkeiten in Erwägung zu ziehen, die mit verschiedenen Zirkeln, Unterabteilungen eines weiter ausgedehnten Kreises korrespondieren. Ohne aber auf diese verwickelte Frage näher einzugehen, können wir behaupten, daß außer dem Hauptzentrum mehrere Nebenzentren gleichzeitig bestanden, die miteinander Beziehungen hatten und Ebenbilder des ersteren sind. Wir haben bereits die Analogie zwischen Lhassa, dem Zentrum des Lamaismus, und Agarta festgestellt; wir dürfen ergänzend bemerken, daß man auch im Abendland mindestens noch zwei Städte kennt, deren gleiche topologische Lage ursprünglich zu derselben Annahme berechtigt: Rom und Jerusalem. In der Tat bestand im Altertum eine Art heiliger oder priesterlicher Geographie. Die Lage der Städte und Tempel war keine willkürliche, sondern eine nach Gesetzen fest bestimmte; außerdem vollzog sich die Gründung einer Stadt und der Aufbau einer Lehre (oder einer neuen Form der Überlieferung, die sich den tatsächlichen Zeit- und Ortsverhältnissen anpaßte) in der Weise, daß eine solche Städtegründung oft zum Symbol der letzteren wurde. Selbstverständlich mußte man sehr vorsichtig sein, wenn es sich darum handelte, die Lage einer Stadt festzusetzen, deren Bestimmung es war, in irgendeiner Hinsicht die Hauptstadt eines Teiles der Welt zu werden, und die Namen dieser Städte wie vor allem die Erzählung über die Umstände ihrer Gründung verdienten wohl, daß man sie unter diesem Gesichtspunkt betrachtete. Aber dieses sind Erwägungen, die mit unserem Thema nur indirekt zusammenhängen.

Wir könnten die Ausführungen über das "Höchste Land" noch durch viele andere übereinstimmende Überlieferungen ergänzen, aber wir müssen uns auf das Gesagte beschränken. Die sich aus dem Ganzen deutlich ergebende Folgerung ist die Bestätigung für das Bestehen einer bestimmten "Terra Santa" [eines bestimmten "Heiligen Landes"], das Urbild aller übrigen "Terre Sante" ["Heiligen Länder"] eines geistigen Zentrums, dem alle anderen Zentren untergeordnet sind. In der heutigen Epoche ist diese "Terra Santa", die von Wächtern verteidigt und profanen Blicken verborgen wird, unsichtbar und unzugänglich; jedoch nur für jene, die nicht im Besitz der zum Eintritt erforderlichen Eigenschaften sind. Darf nun ihr Bestehen in einer bestimmten Örtlichkeit buchstäblich als "wirklich" angenommen werden oder nur symbolisch oder gleichzeitig das eine und das andere? Unsererseits antworten wir einfach, daß die geschichtlichen und geographischen Tatsachen wie alle übrigen einen symbolischen Wert haben, was übrigens ihren eigentümlichen "Wahrheiten" nichts nimmt, ihnen sogar eine höhere Bedeutung verleiht. Wir haben darüber schon mehr gesagt, als bisher jemals geschehen, aber wir glauben nicht, daß es zu viel gewesen ist. Unter den heutigen Verhältnissen folgen die Ereignisse mit solcher Schnelligkeit aufeinander, daß viele Dinge, deren Ursachen jetzt noch nicht klar zutage liegen, plötzlich ganz unerwartete Zusammenhänge aufweisen.

René Guénon

Aus dem Dezemberheft 1924 der italienischen Monatsschrift "Atanòr"

[Aus: Um Ferdinand Ossendowski, Frankfurt am Main 1925]

 

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